Konzertkritik aus den Kieler Nachrichten vom 1.5.2006:
Die Freiheit zum Groove
TinaZAHRTs Bühnenpremiere im Prinz Willy
Von Jörg Meyer
Kiel – Wenn man das mal philosophisch betrachtet, gibt es sowohl die
Freiheit von als auch die Freiheit zu etwas. Genauso ist das beim
frei improvisierten Jazz der Kieler Combo TinaZAHRT, die am Freitag
im Prinz Willy ihr Live-Debüt gab.
Frei von jeglicher Komposition, von Absprachen über Tonart, Tempo
oder Dauer, lassen sich Tasten-Guru Heiko Klotz, Jens Tolksdorfs
klangfarbiges Gebläse von der Bassklarinette über die Saxe bis hin
zur Flöte, Peter Weise an den gewohnt streichzarten bis PS-starken
Drums und Bernd Tomaschek am „nordic walking“ E-Bass vom Augenblick
und was musikalisch aus ihm entsteht treiben. Und gewinnen dabei
immer wieder die Freiheit zum Groove.
Die Jazzologen im Publikum diskutieren: Ist das mit dem Groove nun
gut, oder sind die Vier, die auch in der Band Anthrazit auf einander
schwören, einfach zu vertraute Kommunikatoren, als dass sie wirklich
frei spielen könnten. Anders ausgedrückt: Wenn der Ball, den einer
ins Feld wirft, sogleich so gut verwandelt wird, kann man dann vom
freien Spiel der Kräfte reden? Oder noch anders: Ist „Stück 2“ (das
naturgemäß keinen Titel als diesen hat) vielleicht der wirkliche Free-
Jazz, weil es dem Rezensenten just da zu chaotisch, zu unvermittelt,
zu beliebig zugeht?
Mit dem Free-Jazz der 60er und 70er hat TinaZAHRT nur am Rande zu
tun, wenn sich Jens Tolksdorf in abseitige Ekstasen bläst. Die
Freiheit von wird nämlich gleich wieder zu einer Freiheit zu. Nicht
die Harmonien, auch nicht der Impuls, den meist Klotz' E-Piano, Orgel
und raffinierter Sample-Synthie gibt, führt in diesen gemeinsamen
Willen zum Groove. Aber die Geste, die Stimmung, die Klotz oder auch
mal Tolksdorf oder Tomaschek anstoßen, wird von den Kollegen so
prompt antizipiert, dass selbst die totale Improvisation sich
komponiert anhört.
Dennoch, es ist eine Komposition und damit eine (unfreiwillig)
gebundene Kommunikation, die hier und jetzt gemacht wird, als
unwiederholbares Unikat. Das Chaos organisiert sich und ihm dabei
zuzuhören, ist vielleicht das Spannendste an TinaZAHRTs
Freigeisterei. Gleich fallen einem wieder all diese Kategorien ein –
Selbstorganisation von Systemen, dass es den Zufall nicht wirklich
gibt ... – und beleuchten so in den Improvisationen des Quartetts
musikalische Basis- und Theoriearbeit, deren Praxis nur ein Gleichnis
ist.
Dessen sinnliche Erfahrung ist freilich frei von jeder Theorie.
Groove rulez! Und die Frage, ob das nun so oder anders oder überhaupt
„free“ und improvisiert oder im Augenblick komponiert ist, spielt
keine Rolle mehr, weil die experimentierfreudige Klangunmittelbarkeit
von TinaZAHRT mittel- wie unmittelbar Kopf und Herz und Bauch groovt. |